FilmFaktum Splitter


Der Busfahrplan und die Jungnazis

 

Nun ja, so einfach kann es sein: Bei einer der zahlreichen Diskussionen nach den Vorführungen unseres Films „Blut muss fließen“ – Undercover unter Nazis steht eine jüngere Frau auf und macht ihrem Unmut Luft. Es sei doch ganz klar – und so würde das nicht nur in ihrem Ort laufen. Der Busfahrplan hätte in ländlichen Gebieten entscheidenden Einfluss darauf, ob junge Menschen Nazis würden oder nicht. Nach 17 Uhr gäbe es keine Möglichkeit mehr, irgendwo anders hinzukommen. Ohne Führerschein null Chance auf eine Disco oder Fete in der Umgebung, unmöglich ein Besuch von Freunden anderswo. Ein eigener Jugendclub? Fehlanzeige. Da würden dann halt viele dort landen, wo ein paar Jungs mit Ghettoblaster und Flaschenbier den Ton angeben. Nazimusik mit menschenverachtenden Texten und Sprüche gegen sogenannte Ausländer seien hier angesagt. Alltag in ihrem Ort, auf einem Parkplatz.

Ja, es kann erschreckend einfach sein, dass junge Leute wegdriften, sich am rechten Rand der Gesellschaft wiederfinden und dann weiter radikalisieren können. Und es ist für mich bedrückend, nach unseren Filmvorführungen an Schulen immer wieder zu erleben, mit welcher Gleichgültigkeit bis hin zu Akzeptanz manche Schüler*innen auf die krassen Nazikonzerte mit den verbotenen Liedtexten reagieren. Zum Beispiel so: In einer Demokratie habe man die Freiheit, solche Lieder zu singen. Keine Frage.

Die Frage, die sich angesichts solcher Erlebnisse aufdrängt, geht tief in unsere Gesellschaft hinein. Von der Bundespolitik bis hinunter in die letzten Verzweigungen unserer Zivilgesellschaft. Die Frage lautet: Warum kann so etwas heute Realität sein? In der Folge ein paar Erklärungsversuche, die mir relevant erscheinen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit bei der Kürze des Textes.

Es gibt Defizite, was die Förderung von Jugendarbeit angeht. Hier wird sehr schnell der Rotstift angesetzt. Jugend hat keine Lobbyisten, die in den Fluren der Parlamente ihren Einfluss geltend machen. Und so fehlt es nicht selten allein schon mal an Räumen, die Jugendlichen offen stehen. Die ihnen Freiraum geben, in denen sie „ihr Ding“ machen können. Ein paar Leitplanken sollten freilich vorhanden sein, damit so ein Projekt nicht die demokratische Orientierung verliert und scharf rechts abbiegt. Aber wer ist bereit, sich um all das zu kümmern? Oder wie viele Behörden wollen Geld hinlegen für mehr Jugendsozialarbeit? Auch hier wurde und wird oft am falschen Fleck und an zivilgesellschaftlichem Engagement gespart. Trotz gegenteiliger Bekundungen.

Das Gejammer in den Vereinen ist vielerorts groß, dass es an Nachwuchs fehlt. Aber was bieten Vereine jungen Leuten? Sollen sie sich nur einfügen in das, was die Alten schon immer so gemacht haben? Oder bekommen sie wirkliche Mitsprache und einen eigenen Gestaltungsraum? Tradition kann nur die Basis sein, von der aus neue Räume erschlossen werden. Mut zum Aufbruch heißt auch, Vertrauen zu haben in Neugier, Leidenschaft und Kompetenz von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Ihre Ideen nicht mit dem Argument (das keines ist) wegzuwischen „Werde Du erst mal so alt wie ich…“

Eine andere Bildungspolitik muss diskutiert werden: Für Schulen gilt es, mehr Verantwortung an die Schüler*innen zu übertragen und demokratische Erfahrungen gerade in den frühen, prägenden Entdeckungs- und Lernphasen zu ermöglichen. Ein primär wettbewerbsorientiertes Ausbildungssystem, das möglichst effektiv und schnell junge Menschen für den Arbeitsmarkt und die Steigerung des Bruttosozialproduktes fit machen soll, ist geradezu gefährlich für den Zusammenhalt einer demokratischen Gesellschaft. Ausbildung muss auch Räume öffnen für Entdeckungsreisen zum eigenen Ich. Ermutigen zur Suche nach dem Sinn für das eigene Leben. Sollte es nicht gesellschaftliches Ziel sein, dass jeder Mensch seinen individuellen Weg durchs Leben finden kann und dann aufgrund dieser Erfahrung für das Gelingen einer offenen, solidarischen und demokratischen Gesellschaft eintritt? In der übrigens auch Jugendliche, deren Eltern zugewandert sind, sich zuhause und nicht länger als Ausländer fühlen. Genau das begegnet mir nämlich so häufig bei den Diskussionen in Schulen und Jugendclubs. Dem müssen wir uns endlich stellen.

Und damit sind wir wieder bei uns Bürger*innen und bei unserer täglichen Verantwortung im öffentlichen Raum. Ist das eine Begegnungszone, in der ich Mitmenschen um mich herum wahrnehme, Problemlagen erkenne und dann auch aktiv werde? Oder glaube ich schon lange nicht mehr an das demokratische Credo von Mitgestaltung, mit dem ich zu allererst in meinem direkten Umfeld Verantwortung übernehme? Wenn dieses Prinzip nicht gelebt wird, dann haben eben auch ein paar Jungnazis die Chance, für die Heranwachsenden im Ort den Ton anzugeben. So manchen unter den Älteren wird das vielleicht gar nicht so unrecht sein. Auch solche Szenarien habe ich auf meiner Filmtour erlebt. Nicht nur einmal.

Zurück zum Busfahrplan: Wenn der Einfluss darauf haben kann, wohin die politische Reise von jungen Menschen geht, dann offenbart das deutliche Defizite einer demokratischen Gesellschaft. Der Rechtsruck in Deutschland und Europa kommt nicht von ungefähr. Angesichts dieser Entwicklung ist es nun wirklich an der Zeit, dass alle Demokrat*innen aktiv werden.

Peter Ohlendorf / FilmFaktum / info@filmfaktum.de / 04.12. 2016